Seit
sieben Wochen führen NATO-Staaten Krieg gegen Libyen. Ein Ende der
Angriffe ist nicht abzusehen. Immer wieder wird die Hauptstadt Tripolis
von schweren Explosionen erschüttert. Man wolle den »Druck« auf das
Regime von Muammar Al-Ghaddafi so lange aufrechterhalten, bis die Gewalt
beendet ist, lautet die verquere Logik des westlichen Militärpakts. Bei
den Protesten der Friedensbewegungen, etwa bei den Ostermärschen im
vergangenen Monat, wird der neue Krieg der NATO meist mit keinem Wort
erwähnt. Gingen nach den US-Angriffen auf Tripolis und Bengasi 1986 noch
Tausende Menschen voller Empörung über die willkürlichen
Bombardierungen auf die Straße, so bleiben die Proteste heute sehr
verhalten. Viele scheuen sich, Stellung gegen den Krieg zu beziehen,
avancierte Libyen doch im Westen, im Zuge der Kriegsvorbereitungen, in
kurzer Zeit zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen
das von Politik und Medien gezeichnete Bild eines Kampfes des »Volkes«
gegen den »Tyrannen Ghaddafi«. Doch hat der Revolutionsführer weiterhin
viele Anhänger und treffen die Zerstörungen des Krieges weite Teile der
Bevölkerung, die ihn – unabhängig davon, wie sie zu Ghaddafi stehen –
mit Sicherheit nicht wollte.
Leichtfertig wird übersehen, welch
einen fürchterlichen Preis Bürgerkrieg und NATO-Intervention von den
Libyern fordern kann. Schließlich hatte Libyen bis jetzt den höchsten
Lebensstandard in Afrika, und das »Entwicklungsprogramm der Vereinten
Nationen« (UNDP) bescheinigte dem nordafrikanischen Land beste
Aussichten, die Entwicklungsziele der UNO bis 2015 zu erreichen. Diese
Hoffnungen dürfte der NATO-Krieg bereits zerstört haben. Dem Land droht
nun ein Absturz vergleichbar dem im Irak.
Wenig hat man in den
vergangenen Jahren über Libyen gehört, das Verhältnis zum Westen hatte
sich entspannt, europäische Regierungschefs trafen sich nun oft mit
ihrem libyschen Kollegen Ghaddafi, die Geschäfte blühten. Im Zuge der
Kriegsvorbereitung wurde das Land plötzlich zur übelsten Diktatur. Auch
viele Kriegsgegner übernehmen die Charakterisierung und wünschen den
Sturz des »Despoten«. Doch läßt sich das libysche Gesellschaftssystem
tatsächlich auf Ghaddafi reduzieren, sind die Verhältnisse in Libyen
tatsächlich schlimmer als in hundert anderen Ländern und gibt es nicht
wesentlich mehr Faktoren, die die Lebensverhältnisse eines Landes
bestimmen, als die bürgerlichen Freiheiten?
Für Richard Falk, den
UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in Palästina, ist »der
»Grad der Unterdrückung« in Libyen nicht »durchdringender und schwerer«
als in anderen autoritär regierten Ländern. Auch nach den
Länderberichten von Amnesty International unterscheidet sich die
Menschenrechtssituation Libyens kaum von unzähligen anderen Staaten, bei
arabischen Verbündeten in der NATO-Kriegsallianz wie Saudi-Arabien
ist sie sogar wesentlich schlimmer. Der UN-Menschenrechtsrat hat das
Land im Bericht zur jüngsten »allgemeinen regelmäßigen Überprüfung«
Libyens, die Ende letzten Jahres vorgenommenen wurde, sogar für seine
Fortschritte bei den Menschenrechten gelobt. Zahlreiche Länder –
darunter Venezuela und Kuba, aber auch Australien und Kanada – hoben in
ihren Erklärungen einzelne Aspekte noch besonders hervor.
Für
westliche Medien ist dieser Bericht, dessen abschließende Diskussion nun
kurzfristig von März auf Juni verschoben wurde, ein Skandal – für sie
eine Folge der vielen, selbst noch »wenig zivilisierten« Mitglieder des
Menschenrechtsrats aus dem Süden. Doch betrachtet dieser die
Lebensverhältnisse nur unter einem anderen Blickwinkel und legt sehr
großes Gewicht auf die Verwirklichung sozialer Rechte, d.h. auf das, was
für die meisten Menschen die größte Bedeutung hat: die Befriedigung der
grundlegenden Bedürfnisse, ausreichendes Einkommen, Nahrung, Wohnung,
Gesundheitsversorgung und Bildung.
Auch in dieser Hinsicht ist
die Situation in Libyen, angesichts von Korruption oder hoher
Jugendarbeitslosigkeit, durchaus nicht befriedigend. Im Vergleich mit
anderen Ländern stehen die Libyer aber dennoch recht gut da, und sie
haben sehr viel durch die NATO-Intervention zu verlieren. Der relativ
hohe Lebensstandard erklärt auch, warum Ghaddafi durchaus noch Rückhalt
im Land hat – besonders, so der Libyen-Experte Andreas Dittmann von der
Universität Gießen, unter den älteren Generationen, die sich noch an die
früheren Zeiten erinnern.
Entwicklung gebremst
Als 1969 der von
den USA und den Briten eingesetzte König Idris gestürzt wurde, war
Libyen trotz der 1961 angelaufenen Erdölexporte noch ein armes, vom
Kolonialismus schwer gezeichnetes, unterentwickeltes Land. Die
schrittweise Nationalisierung der Ölproduktion ermöglichte eine
beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung und rasche Verbesserungen der
Lebensbedingungen. Mit dem drastischen Einbruch des Ölpreises zwischen
1985 und 2001 geriet diese Entwicklung ins Stocken. Die 1993 verhängten
UN-Sanktionen verschärften die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch
enorm. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von 6600 Dollar pro Kopf im
Jahr 1990 auf 3600 Dollar in 2002 und wuchs erst nach der Aufhebung der
UN-Sanktionen im September 2003 wieder deutlich.
2008 erreichte
das in Kaufkraftparität ausgedrückte BIP laut UNDP pro Kopf 16200
Dollar. Zum Vergleich: Das BIP von Ägypten betrug im selben Jahr 5900
Dollar, das Algeriens und Tunesiens ca. 8000 Dollar. Saudi-Arabien hatte
ein BIP von zirka 24000, Kuwait von 51500 und Katar von 72000 Dollar.
Soziale Erfolge
Die
Wirtschaftssanktionen blockierten eine Modernisierung der Infrastruktur
und brachten insbesondere alle Pläne, neben dem Erdöl auch andere
Industriezweige zu entwickeln, praktisch zum Erliegen. Der
wirtschaftliche Niedergang bremste natürlich auch die Entwicklung in
sozialen Bereichen. Libyen sackte beim »Human Development Index« (HDI),
der anhand einiger Basisindikatoren wie Lebenserwartung,
Kindersterblichkeit und Alphabetisierung das Entwicklungs- und
Lebensniveau eines Landes zu messen sucht, Mitte der 90er Jahre vom 67.
auf den 73. Platz ab.
Nachdem die Staatseinnahmen, unterstützt
durch den Anstieg des Ölpreises, reichlicher flossen, verbesserten sich
auch die Lebensbedingungen wieder deutlich. Das Land liegt mittlerweile
auf HDI-Rang 53, vor allen anderen afrikanischen Ländern und auch vor
dem reicheren und vom Westen unterstützten Saudi-Arabien. Mit
»Regierungssubventionen in Gesundheit, Landwirtschaft und
Nahrungsimport«, bei »gleichzeitiger Steigerung der Haushaltseinkommen«,
konnte nun die »extreme Armut« praktisch beseitigt werden, stellt die
UNDP in ihrem Monitor der UN-Millenniumentwicklungsziele fest. Die
Lebenserwartung stieg auf 74,5 Jahre und ist damit die höchste in
Afrika. Die Kindersterblichkeit sank auf 17 Tote pro 1000 Geburten und
ist damit nicht halb so hoch wie in Algerien (41) und auch geringer als
in Saudi-Arabien (21). Libyen liegt auch bei der Versorgung von
Schwangeren und der Reduzierung der Müttersterblichkeit vorne. Die
Malaria wurde vollständig ausgerottet.
Die Analphabetenrate sank
in Libyen auf 11,6 Prozent und liegt deutlich unter der von Ägypten
(33,6), Algerien (27,4), Tunesien (22) und Saudi-Arabien (14,5). Der vom
UNDP ebenfalls berechnete Bildungsindex, in den neben der
Alphabetisierung auch die Zahl von Schülern in höheren Schulen und
Studenten eingeht, liegt sogar über dem der kleinen superreichen
Scheichtümer Kuwait und Katar, die man an sich kaum mit den arabischen
Flächenstaaten vergleichen kann.
Auch der Irak hatte in den
1980er Jahren einen relativ hohen Lebensstandard, höher noch als der
Libyens. Dieser brach bereits unter dem mörderischen UN-Embargo massiv
ein. Ihre »Befreiung« von Saddam Hussein stürzte die irakische
Gesellschaft dann vollends in den Abgrund. Der Zerfall schreitet noch
immer fort. Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich
sogar noch aus. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt in
äußerster Armut. 55 Prozent haben kein sauberes Trinkwasser, 80 Prozent
sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Strom gibt es nur
stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme
liegen am Boden.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ein von den
NATO-Staaten durchgesetzter »Regime Change« in Libyen viel besser für
das Land ausgehen würde, von einem langem Bürgerkrieg und einer Teilung
des Landes ganz zu schweigen. Schließlich sind die angreifenden Mächte
und ihre Agenda nahezu identisch und ähnelt auch die Führung der
Aufständischen in vielem der der Iraker, die die USA im Zweistromland an
die Regierung brachten – radikale islamische Organisationen und
prowestliche, neoliberale Verfechter einer vollständigen Öffnung und
Privatisierung der Wirtschaft des Landes.
Verfasst von Ribat al-Salam